Kassiererin Anita Guthmann

Ich brauche die Leute und die Unterhaltung um mich herum.

Kassiererin Anita Guthmann
Kassiererin zieht Bananen und Joghurt über das Band.

Anita Guthmann ist Kassiererin. Eine, die immer einen flotten Spruch auf den Lippen hat und voll und ganz hinter ihrem Job steht. Ein Gespräch über unnütze Pfandbons, unmögliche Selbstbedienungskassen bei IKEA und unvergessliche Tage.

Warum stellt man sich eigentlich immer an der falschen Kasse an?

Das geht mir selber auch so.

Und? Ärgern Sie sich dann auch darüber?

Nicht wirklich. Ich kenne ja lange Schlangen und das ist dann einfach so. Klar werde ich auch ein wenig ungeduldig, wenn ich es eilig habe. Aber im Großen und Ganzen richte ich mir meinen Einkauf so ein, dass ich dann auch Zeit und Ruhe dafür habe.

Warum sind Sie Kassiererin geworden?

Ich komme ursprünglich aus Hessen und bin hier rüber gezogen und da war das dann ein Zufall. Ich habe mich im Edeka Anders eigentlich für die Fleischabteilung beworben, weil ich Fleischwarenfachverkäuferin gelernt habe. Aber Herr Anders brauchte Leute an der Kasse. Ich hatte Verkaufserfahrung vom Wochenmarkt und auch von einem Café und so konnte ich mir das vorstellen. Am Anfang war das eine Umstellung, den ganzen Tag zu kassieren. Aber es hat mir auch Spaß gemacht. Und so habe ich mich an einem Tag beworben und habe am nächsten Tag angefangen. Das ist jetzt sechs Jahre her und ich mache den Beruf unheimlich gerne.

Während meiner Schulzeit habe ich an einer Tankstelle gejobbt und da musste ich auch kassieren. Am liebsten habe ich Zigaretten gescannt – keine Ahnung warum. Haben Sie auch ein Lieblingsteil?

Ich kassiere alles gerne. Ich habe kein Lieblingsteil. Selbst Obst und Gemüse mache ich gerne. Das müssen wir ja extra abwiegen. Aber auch das mache ich unwahrscheinlich gerne.

Warum machen Sie das so gerne?

Mir gefällt die Abwechslung und man muss auch den Kopf anstrengen. Man zieht die Sachen ja nicht nur drüber, sondern man muss sich auch die PLU Nummern merken. Bei Bananen ist es zum Beispiel die 1306. Die muss ich eingeben, um die Bananen wiegen zu können, um dann den richtigen Preis auszuweisen. Und das mag ich unwahrscheinlich. Das Erinnern macht Spaß. Ich muss da wirklich mitdenken.

Und wenn Sie mal doch „nur“ drüberziehen müssen?

Das klingt vielleicht doof, aber es ist eine einfache Arbeit. Und trotzdem ist es auch anstrengend. Man muss sich immer konzentrieren. Manche Sachen sind ausgezeichnet, die muss man dann mit der Hand eingeben. Ich finde meine Arbeit sehr abwechslungsreich.

 

Blick von oben auf die Kassiererin, wie sie Getränkebons eintippt

Und gibt es ein Teil, das sie überhaupt nicht gerne kassieren? Bei mir war das so ein eingeschweißter Goudakäse im Snickers Format. Den fand ich ekelig.

Ich kassiere nicht gerne, wenn sich Leute nur mit einem Pfandbon anstellen. Teilweise stellen sich Leute mit Bons über 20 Cent an. Und da muss ich dann extra die Kasse für aufmachen. Das hält auf und ist stressig, gerade wenn es voll ist. Meistens kramen die dann noch das Geld hervor und wollen es ganz genau passend geben und aufrunden. Das dauert. Natürlich kassiere ich diese Kunden auch, aber das finde ich anstrengend. Ich persönlich würde mich einfach nicht für acht Cent Pfand in die Schlange stellen.

Das passiert? Das ist eine Bierflasche…

Das hatte ich ein paar Mal diese Woche.

Freuen Sie sich, wenn jemand besonders viel einkauft und hinterher 285,73€ auf dem Display stehen?

Das ist mir egal. Ich bin ein Mensch, der gerne mit Kunden zusammen ist. Ob sie jung oder alt sind oder auch Kinder: Was sie einkaufen ist mir egal. Und auch wieviel. An manchen Tagen weiß man schon, dass es ein guter Tag war. Aber ich achte da nicht bewusst drauf. Mir geht es um den Spaß. Was ich aber total schön finde, ist, wenn Leute ihre Sammelmarken einlösen. Da freue ich mich. Im Moment gibt es Gartensachen und vor Weihnachten waren es Töpfe. Ich freue mich, wenn die Leute kommen und sich dafür wirklich was kaufen, weil ich die Marken dann nicht nur aufgequatscht habe, sondern die Kunden wirklich was damit anfangen können. Ich finde es schön, wenn dann jemand einen Gartenschlauch mit nach Hause nimmt.

Mir fehlten mal hundert Euro in meiner Kasse.

Ja, das ist schlimm. Wenn ich dann abends Heim gehe, denke ich die ganze Zeit darüber nach. Ich schlafe dann auch die ganze Nacht nicht. Das beschäftigt mich, wenn ich da was angestellt habe und ich frage mich, wie ich das fabriziert habe. Manchmal gibt man einfach was verkehrt raus und die Leute sagen nichts. Das ist schlimm. Aber das ist jedem schon Mal passiert. Oft passt aber auch was mit dem Wechselgeld nicht. Das findet sich dann am nächsten Tag wieder. Bei großen Beträgen ab 50 Euro ist das meistens so.

Ich habe früher hier im Viertel gewohnt und war oft bei Ihnen einkaufen. Nun bin ich umgezogen. Aber als wir uns eben nach eineinhalb Jahren wiedergesehen haben, sagten Sie als Erstes: „Ihr Gesicht, das kenne ich noch.“ Wie machen Sie das?

Ich kann mir keine Namen merken, aber Gesichter. Und die Stammkunden, die erinnere ich einfach – auch Jahre später noch. Wenn man dann jemanden lange nicht gesehen hat, dann fragt man sich schon, wo der steckt. Ich habe mich gerade gestern mit meiner Kollegin unterhalten. Ich sagte zu ihr: „Weißt du, wen ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Die ältere Dame mit dem roten Portemonnaie.“ Die hat mir immer den Geldbeutel gegeben und meinte: „Holen Sie sich das Geld raus.“ Der habe ich die Sachen immer in die Tasche gepackt und an den Rollator gehängt. Da mache ich mir dann Gedanken – war ja schließlich eine ältere Dame. Ich denke jetzt nicht direkt daran, dass sie vielleicht gestorben ist. Aber vielleicht ist sie auch ins Pflegeheim gekommen. Wenn ich da jedes Mal denken würde, dass da wer gestorben ist, dann könnte ich ja gar nicht mehr schlafen. Sowas geht mir schon nahe. Gerade bei Älteren. Ich kann sehr gut mit denen. Ich habe einige Kunden, die gucken erst, wo ich kassiere und dann stellen sie sich extra in meine Schlange, egal wie lang die ist. Viele vermissen einen dann auch. Neulich war ich im Urlaub und dann kam eine ältere Dame nachher zu mir und sagte: „Schön, dass Sie wieder da sind. Ich habe Sie so vermisst.“ Das ist doch schön.

Und wieviel wissen Sie über die Leute? Das sind doch eher immer flüchtige Momente.

Die älteren Leute erzählen schon viel. Dass sie Geburtstag haben oder dass die Kinder kommen. Da erfahre ich schon auch private Sachen. Oder heute Morgen kam ein Mann, der sonst immer mit seiner Frau kommt. Und der sagte dann, er solle mich lieb von seiner Frau grüßen, sie würde am Freitag wieder mitkommen, aber heute müsste sie kochen und backen und machen und tun. Das ist schön und zeigt ja auch Vertrauen.

Ist das wichtig?

Ja, natürlich. Die Leute haben einfach Vertrauen in mich. Wenn ich die Leute abkassiere und die wollen den Kassenbon nicht, dann müssen sie mir ja vertrauen. Ich könnte die Leute da auch bescheißen. Und ich vertraue den Leuten auch. Ich erzähle ja auch mal was Privates von mir selber. Und dann will ich ja auch nicht, dass das rausgetragen wird. Ich denke es ist ein gegenseitiges Vertrauen.

Apropos, Vertrauen an der Kasse. Mittlerweile gibt es bei IKEA diese „Selbstbedienungskassen“. Wie ist so ihr Verhältnis dazu?

Das finde ich schlimm. Das ist doch total unpersönlich. Ich stelle mich immer an einer richtigen Kasse an.

Welchen Tag aus Ihrer Kassierer-Karriere werden Sie niemals vergessen?

Silvester vor drei oder vier Jahren. Da war es so gestopft voll, dass sich der Marktleiter als Türsteher vor den Eingang gestellt hat und niemanden mehr reingelassen hat. Die Leute standen mit einer Engelsgeduld in den Schlangen. Und jeder hatte ein liebes, nettes Wort übrig und Alle haben mir ein frohes neues Jahr gewünscht. Ich arbeite seit meinem 16. Lebensjahr im Verkauf und jetzt bin ich 54 Jahre alt. So einen Tag habe ich noch nie erlebt und den werde ich nie vergessen. Das war verrückt. Das war der Wahnsinn. Es war einfach toll – eine ganz tolle Atmosphäre. Ich mag das einfach, wenn es voll ist. Ich meine, die Schlange muss nicht immer bis zum Obst und Gemüse stehen. Aber wenn viele Leute da sind, hält man auch oft einen Schnack und das gefällt mir einfach.

Da haben wir jetzt über die guten Kunden gesprochen. Welches sind denn die Arschloch-Kunden?

Das sind die, die nicht „Hallo“ und nicht „Guten Tag“ sagen und einen auch nicht anschauen. „Danke“, „bitteschön“. Und es sind die, die einem das Geld einfach so hinschmeißen. Das sind die Kunden, die eigentlich keiner gerne hat.

Was macht das mit Ihnen, wenn Sie so behandelt werden?

Ich bin dann grad noch einen Tick freundlicher, sodass ich mittlerweile auch zwei drei Kunden habe, die mir früher das Geld hingeschmissen habe und jetzt kommen die an die Kasse und sagen „Guten Tag“ und „Auf Wiedersehen“. Die können das auf einem Mal. Wenn mir einer das Geld hinschmeißt, dann gebe ich ihm das Rückgeld und den Kassenbon extra in die Hand. Nur so lernen die Leute.

Wieso bleiben Sie da so freundlich und schalten nicht selber um?

Ich behandle Menschen einfach gerne gut. Das ist für mich selbstverständlich. Und wenn die Menschen unfreundlich sind, dann sage ich immer: „Du weißt nicht, was in dem Menschen steckt.“ Vielleicht muss der ein Schicksal verkraften. Vielleicht ist auch einfach jemand verbittert, wenn er viel einstecken musste. Man steckt in den Menschen einfach nicht drin. Und manche Menschen haben auch einfach ihre Art und damit müssen wir dann alle leben. Auch die Obdachlosen: Die werden von mir herzlich begrüßt und höflich verabschiedet. Manchmal sind sie brummelig, aber das ist auch ok für mich.

Wie reagieren die Leute generell auf ihren Job? Sie haben am Anfang selber gesagt, das sei ein „einfacher“ Job.

Ja, aber er ist auch anstrengend. Man muss seinen Kopf zusammennehmen. Mir haben auch schon Leute gesagt: „Du sitzt doch nur an der Kasse.“ Ja, ha ha. Du sitzt nur an der Kasse stimmt ja gar nicht, weil ich teilweise auch mit im Laden helfen muss. Ich sitze gar nicht nur an der Kasse und tippe da. Wir Kassenleute gehen auch raus und packen im Laden mit aus. Oder ich sortiere morgens oft die Zeitungen ein. Und die Tüten und die Kasserollen müssen auch bestellt werden. Darum kümmere ich mich auch.

Tut so ein Spruch nicht unheimlich weh?

Das macht gar nichts mit mir. Da stehe ich drüber. Ich sage dann: „Ihr könnt gerne mal mit mir tauschen und dann können wir ja weiter reden“. Sonst sage ich da nichts. Was soll ich da auch sagen. Das ist mein Job. Ich will nicht die Welt verändern. Das ist nicht wichtig für mich. Ich mache meinen Job und den mache ich sehr gerne. Mein Anspruch ist, dass es mir Spaß macht. Wenn ich morgens die Füße aus dem Bett hebe und ich denke: „Oh nein, jetzt muss ich da schon wieder hin…“ – dann ist das nicht der richtige Job für mich. Mich könnte man nicht in ein Büro stecken. Ich könnte nicht den ganzen Tag auf der Schreibmaschine tippen. Ich brauche das Leben um mich herum. Ich brauche die Leute und die Unterhaltung um mich herum. Ich genieße auch die Ruhe, wenn ich zu Hause bin und dann kann ich da komplett abschalten. Aber wenn nix um mich los ist – das wäre nicht mein Job.

Zum Thema „abschalten“: Nervt dieses dauernde Piepen nicht?

Das kann nerven, ja. Aber Dank der neuen Kasse können wir das ganz leise stellen, so, dass man es fast nicht mehr hört. Bei mir ist das Piepen ganz leise und ein Auge ist dann immer auf dem Bildschirm, damit ich keine Fehler mache.

Was ist für Sie Erfolg?

Wenn ein Kunde zufrieden und glücklich Heim geht und zwei Tage später wiederkommt. Und für mich ist es schön, wenn ich mal krank oder im Urlaub war, und die Kunden sagen dann: „Schön, dass Sie wieder da sind.“ Das ist Anerkennung.

Zum Schluss: Gibt es wirklich keinen Insider-Tipp, um die „richtige“ Schlange zu erspähen?

Nein, leider nicht. Hören Sie einfach auf Ihr Bauchgefühl. Und ärgern Sie sich nicht!

     Schwarz-weiß Portrait der Kassiererin Anita Guthmann

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Julia Kottkamp Gründerin und Autorin Julia Kottkamp

Julia hat Journalistik studiert und arbeitet freiberuflich als Kommunikationsberaterin und Sparringspartner in Organisationsentwicklungsprozessen. In ihrer Arbeit geht es immer um das Gespräch mit Menschen. Zuhören, verstehen und daraus Kommunikation für Klarheit entwickeln.

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Stefan Roehl Fotografie Stefan Roehl

Stefan ist selbstständig als Fotograf. Er fotografiert Reportagen u.a. für Kundenmagazine und liebt als großer Musikfanatiker Künstlerportraits. Er mag es, unter Menschen zu sein und zu quatschen.

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