Christian Wulf ist Kung Fu Meister. Das Schlagen und Treten sind seine Waffen, wenngleich die wahre Kampfkunst im Inneren liegt. Ein Gespräch über die Rolle des Vaters, das Beherrschen von Gewalt und das Unbehagen über einen ehemaligen Bundespräsidenten.
Lieber Christian, bitte nimm mir die Frage nicht übel, aber wenn jemand Kung Fu Meister ist, dann erwarte ich einen kleinen, flinken Asiaten mit unaussprechlichem Namen. Und dann kommst du: Christian Wulf.
Ja, aber mit nur einem f.
OK, nur ein f – immerhin.
Kung Fu und die asiatischen Kampfkünste werden natürlich immer mit Asiaten in Verbindung gebracht. Das ist doch klar und da bist du lange nicht die Einzige, die so denkt. Aber natürlich haben die Herkunft beziehungsweise der Name mit der Sache rein gar nichts zu tun. Vor Jahrzehnten war das noch etwas anders, aber heute werden die westlichen Kampfkünstler genauso geschätzt wie die Asiatischen.
Also ist dein deutscher Name nicht etwa imageschädigend?
Als diese ganze Wulff-Geschichte war, da hat mich das durchaus berührt. Der Name war permanent in den Medien und wurde gar nicht positiv dargestellt. Das hat mich schon sehr geärgert. Ich bin ein Sifu, ein Lehrer, ich strahle ein positives Image aus. Ich bin eine Vertrauensperson, zu der die Schüler aufschauen und wissen, dass sie eine ehrliche Seele vor sich haben. Und dann kommt da ein anderer „Christian Wulf(f)“ und steht für etwas komplett anderes. Ich war schon sehr froh, als das alles vorbei war.
Wie bist du zum Kung Fu gekommen?
Das war Zufall, wobei ich rückblickend natürlich Schicksal sagen würde. Ich war ein hyperaktives Kind und mein Kinderarzt schickte mich mit fünf Jahren zum Judo. Ich wurde älter und merkte, dass ich den Wettkampf liebte. Judo ist eine sehr technische Sportart, aber sie hat dennoch sehr viel mit Kraft zu tun. Als ich 14 wurde, wurde immer deutlicher, dass ich als schlanker und mit 1,72m etwas kleinerer Mann auf lange Sicht keine Chance in der Sportart haben würde. Ich fing an, den Spaß zu verlieren. Und dann entdeckte ich eines Tages ein Plakat, dass in meiner Judo Schule nun auch Kung Fu unterrichtet wurde. Und so fing ich an.
Auf welcher Tradition fußt Kung Fu?
Seinen Ursprung findet Kung Fu im Shaolin Kloster, wo natürlich auch tägliche Ertüchtigung gelehrt wurde. Und auch Selbstverteidigung stand auf dem Programm, um sich im Falle eines Angriffs schützen zu können. Der religiöse Alltag wurde also um die Dimension des Kämpfens ergänzt. Im historischen Verlauf ist Kung Fu dann auch Teil von Familiensystemen geworden. Der Vater, der Sifu, lehrte es seine Söhne und Töchter und andere Väter schickten ihre Kinder zu den besten Sifus der Umgebung. Aus den Familien erwuchsen dann Schulen und so verbreitete sich die Kampfkunst.
Stehst du als Lehrer nach wie vor in dieser Tradition? Also bist du immer noch auch ein Vater?
In erster Linie bin ich natürlich ein echter Vater von einem Sohn. Aber es mag schon sein, dass ich für einige hier auch eine Vaterfigur bin, wobei man da aufpassen muss, weil das sehr privat ist. Es gehört zum Kung Fu dazu, dass ich hier auch sehr private Gespräche führe. Wenn du hier trainierst, dann kannst du dich nicht mehr verstecken. Durch das Training zeigst du dein Wesen und deinen Charakter. Sifu zu sein, bedeutet, auch hin und wieder an kleinen Schräubchen zu drehen und einem Schüler Lebenshilfe zu geben. Du kommst hier nicht nur her, damit ich dich das Schlagen und Treten lehre, damit du gar jemand anderen verletzt. Ich benutze mit meiner langjährigen Kampfkunst- und Lehrererfahrung die verschiedenen Selbstverteidigungstechniken des Schlagens und Tretens als Werkzeuge, um neue Fähigkeiten zu entwickeln, dich zu formen und am Ende vielleicht auch zu einem besseren Menschen zu machen. Das ist im Grunde mein eigentlicher Beruf, meine Berufung.
Also hat Kung Fu nicht nur eine körperliche sondern auch eine geistige Dimension?
Ja, du musst dich geistig mit dem auseinandersetzen, was du körperlich machst. Das fordere ich strikt von meinen Schülern ein. Fitness kann vergehen, aber Wissen bleibt. Ich bin ein Lehrer und kein Coach. Ein Lehrer, kein Trainer. Ich benutze die Fertigkeiten eines Trainers, um dem Schüler die Fitness zu ermöglichen und ihn körperlich zu stählen. Aber vor allem lehre ich ihn, ich unterrichte. Und das Wissen, die Erfahrung bleibt.
Was genau ist die geistige Lehre von Kung Fu?
Wenn ich aus der Schule heraus gehe, dann gehe ich raus ins Leben, aber bleibe im Prozess des Kung Fu. Kung Fu ist eine Lebenseinstellung. Die, die Kampfkunst betreiben, gehören auf jeden Fall zu den guten Menschen, die anderen Menschen helfen wollen. Die aber auch akzeptieren, dass sie Fehler haben und daran arbeiten, diese auszumerzen. Kampfkünstler leben in der Auseinandersetzung mit sich selbst.
Was war die größte Lehre, die du als Lehrer lernen musstest?
Als ich in dieser Schule anfing zu unterrichten, war ich 25 Jahre alt. Es ging mir damals hauptsächlich um mich selbst. Ich war zu der Zeit sehr wettkampfstark. Es ging mir vor allem darum, meinen anderen Schülern meine Fähigkeiten beizubringen, um sie auch zu guten Wettkämpfern zu machen. Sie sollten nachmachen, was ich machte und ich dachte, sie würden dann so gut wie ich werden. Aber das klappte natürlich nicht. Denn der eine ist kleiner, der andere größer, wieder einer gelenkiger. Ich musste anfangen, mich umzudrehen und kreativer zu werden. Ich musste individuelle Wege finden, dass es bei allen klappte.
Was ist für dich das Schönste am Lehrersein?
Das unterrichten ist mein Leben, denn du hast die Möglichkeit, etwas zu bewirken. Ich habe es über Jahrzehnte gemerkt, welche Möglichkeiten ich habe, auf einen Menschen einzuwirken. Aber dafür muss man auch zuhören können, wirklich zuhören und nicht beim Hören schon an die Einkaufsliste denken. Man muss sich Vertrauen erarbeiten und das geht auch mit Respekt und Disziplin einher. Und es geht nicht nur darum, dass der Schüler mich respektiert, sondern ich muss ihn natürlich auch anerkennen. Wenn Vertrauen und Respekt herrschen, dann kann man ehrlich werden und zum Beispiel auch mal sagen: „Hey, du bist zu dick und überfettet und wenn du damit nicht aufhörst, wird es dir damit sehr schlecht gehen.“ Aber man muss auch wissen, wo Grenzen liegen. Das Schönste am Lehrersein ist, dass ich einen Zugang zu den Menschen habe. Ich bin wie eine Docking-Station.
Was ist die Kehrseite deines Jobs?
Es ist schon ein goldener Käfig. Ich kann hier ganz viel Energie nach außen geben, muss aber auch immer wieder schauen, dass ich für mich auch Energie zurückgewinne. Und ich muss sehr diszipliniert sein, was mein eigenes Trainingsprogramm angeht. Mein Körper ist mein Instrument und ich bin auch mit 58 Jahren in der Körperlichkeit noch sehr ehrgeizig. Ich möchte einfach nicht das Gefühl haben, dass ich bestimmte Dinge nicht mehr so gut kann wie früher. Also versuche ich mit aller Macht, meine Fähigkeiten weiter aufrecht zu erhalten.
Hast du Angst vor dem Älterwerden?
Ich bin so hin und her gerissen, wenn ich mich im Spiegel sehe und erkennen muss, dass Dinge sich verändert haben. Aber Angst? Was ist Angst? Ich akzeptiere, dass ich älter werde. Ich würde das nicht als Angst bezeichnen. Ich kenne sehr viele Kampfkünstler, die wesentlich älter sind als ich und noch immer besser werden. Das Schöne an der Kampfkunst ist auch, dass der Respekt zu den Älteren immer weiter wächst. Wenn du aktiv Fußball oder Tennis spielst, gehörst du mit 40 schon zum alten Eisen. Aber in der Kampfkunst greifst du auf ein Füllhorn an Wissen und Erfahrungen zurück und bist 70, 75, 80 und die Leute sagen: „Boah, Respekt, toller Mensch“. Der Körper als Werkzeug ist möglicherweise nicht mehr up to date, aber die Technik und das Wissen um die Sache bleiben hellwach.
Was Technik und Kraft angehen, habe ich das Gefühl, dass du weniger als zwei Sekunden bräuchtest, um mich zu töten. Bei aller geistiger Haltung: Du bildest Menschen auch zu lebendigen Waffen aus. Wie gehst du mit dem Gewaltaspekt in deinem Beruf um?
Die Gewalt steckt in den Menschen. Und manche möchten sich mit dieser Gewalt auseinandersetzen. Beim Kung Fu kannst du das in einer kontrollierten Art und Weise lernen. Die Schüler lernen, sich zu kontrollieren. Und sie lernen, andere wahrzunehmen. Nicht als Opfer, sondern als Menschen. Aber ja: Gewalt spielt eine große Rolle, allerdings nur in einem kontrollierten Maße. Unkontrolliertheit wird bestraft.
Ist es dir schon mal passiert, dass einer deiner Schüler draußen gewalttätig wurde?
Das passiert sehr selten. Aber wenn es passiert, lässt es mich nicht los und ich frage mich, was ich übersehen habe.
Zu guter Letzt: Was ist Erfolg für dich ganz persönlich?
Erfolg ist für mich, wenn ich einen Schüler habe, der sichtlich nicht so geeignet ist und sich dann positiv entwickelt. Ich habe oft Schüler, denen sagst du „Heb mal den rechten Arm“ und in dem Moment treten sie dich mit dem linken Knie. Ich freue mich jedes Mal, wenn sich nach etwas Zeit – früher oder später – die Koordination verbessert. Es ist einfach toll, Schülern Mut zuzusprechen und zu sehen, wie sie langsam selbstbewusster werden und merken, dass es funktioniert. Und besonders sichtbar wird der Erfolg dann, wenn so ein Schüler mit seinen neu erlernten Fähigkeiten in einem Kampfkunst-Turnier einen Pokal gewinnt. Dieses Glücksgefühl ist mit Geld nicht aufzuwiegen.
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